Flüssige Kristalle im "virtuellen Physik-Labor"

Professor Michael P. Allen, einer der Pioniere der Computer-Simulation, als Humboldtpreisträger zu Gast am Institut für Physik

Bereits in der Schule lernt man, dass die uns umgebende Materie in drei Aggregatzuständen existiert: gasförmig, flüssig oder fest. Dass dies nicht die ganze Wahrheit ist, sollte jedermann der ein Handy oder ein Notebook oder auch eine moderne Armbanduhr mit LCD-Anzeige besitzt, gemerkt haben: LCD steht für „liquid crystal display“. Die bereits gegen Ende des 19. Jahrhundert entdeckten „flüssigen Kristalle“ finden immer mehr wichtige Anwendungen!

Der Name dieser Materialien scheint aus Sicht des Physikers ein Widerspruch in sich zu sein: ein Kristall ist etwas sehr Rigides, bewirkt dadurch, dass seine atomaren Bausteine ein starres regelmäßig geordnetes Gitter bilden, wohingegen das Fließen und die Formveränderlichkeit der Flüssigkeit durch die Beweglichkeit der Atome bzw. Moleküle aufgrund ihrer völlig unregelmäßigen Anordnung zustande kommt.

Betrachtet man aber Flüssigkeiten aus stäbchen- oder scheibchenförmigen Molekülen, stellt man fest, dass man diese zwei scheinbar inkompatiblen Zustände der Materie doch quasi „miteinander verheiraten“ kann: zwar sind im Flüssigkristall die Position der Molekülschwerpunkte immer noch ungeordnet, aber die Orientierungen sind langreichweitig geordnet (z. B. die Achsen der Stäbchen sind alle weitgehend parallel zu einem Vektor der diese Ausrichtung vorgibt, dem so genannten „Direktor“). Diese Anisotropie (Richtungsabhängigkeit) der Ausrichtung führt zur Doppelbrechung des den Flüssigkristall passierten Lichts, und da diese Ausrichtung über äußere elektrische Felder gesteuert werden kann, ist dies eine der Grundlagen für die vielen Anwendungen.

Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Ankopplung dieser Orientierungsordnung an Grenzflächen des flüssigen Kristalls zu anderen Materialien mit denen er im Kontakt steht: nahe der Grenzfläche kann der „Direktor“ in eine ganz andere Richtung zeigen als weit weg davon. Gerade wegen der fortschreitenden Miniaturisierung elektronischer Bauelemente werden solche Grenzflächeneffekte und die durch sie bewirkten „Defekte“ in der flüssigkristallinen Ordnung immer wichtiger, sind aber von ihrer molekularen Grundlage her theoretisch nur unzureichend verstanden.

An dieser Stelle kommt Professor Allen ins Spiel. Dank seiner „Computer-Experimente“ werden diese Effekte verständlich und nachvollziehbar. Im Computer kann ein virtuelles Modell aufgebaut werden aus Tausenden oder noch viel mehr Molekülen, die untereinander und mit den Grenzflächen wechselwirken. Die thermischen Fluktuationen lassen sich ebenso simulieren wie die Reaktion des Modellsystems auf die Veränderung äußerer Felder, und die physikalischen Zusammenhänge können auf molekularer Grundlage analysiert und verstanden werden.
Solche Computer-Simulationen sind nicht nur in der Physik unverzichtbar geworden – sei es als Ergänzung analytischer Berechnungen oder bei der Interpretation von Experimenten an realen Systemen. Auch in zahlreichen anderen Wissenschaften und in der Technik geht es nicht mehr ohne: in der Automobilindustrie kommen beispielsweise auf einen realen „Crashtest“ mindestens 10 auf dem Computer simulierte!

Lupe Computersimulation einer Mischung aus Stäbchen und Plättchen in der "nematischen Flüssigkristall"-Phase. In der Ecke sieht man zwei Sphäroide, die die Ausrichtung der jeweiligen Spezies angeben.

Professor Allen ist nicht nur Autor des bekanntesten, schon vor fast 20 Jahren erschienenen Lehrbuchs über das „Know-how“ der Computersimulation von Flüssigkeiten, sondern weltweit bekannt durch seine Pionierarbeiten zu Flüssigkristallen und deren Grenzflächeneigenschaften.
Die Universität Mainz und das Max Planck Institut für Polymerforschung profitieren gleichermaßen davon, dass er Mainz als den Ort gewählt hat, an dem er seine durch den Alexander von Humboldt-Forschungspreis in Deutschland ermöglichten Forschungsarbeiten durchführt. Dieser AvH-Forschungspreis wird nur an internationale Spitzenwissenschaftler in einem harten Wettbewerb verliehen und zählt zu den größten Auszeichnungen, die ausländische Forscher in Deutschland gewinnen können.