Erzeugung und Vermessung des extrem neutronenreichen Wasserstoffisotops ⁶H gelingt erstmals an einem Elektronenstreuexperiment / Ergebnis weist auf unerwartet starke Wechselwirkung zwischen Neutronen innerhalb des Kerns hin
30.04.2025
Der A1-Kollaboration am Institut für Kernphysik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist es zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus China und Japan erstmals gelungen, in einem Elektronenstreuexperiment eines der neutronenreichsten Isotope, Wasserstoff-6, zu erzeugen. Das Experiment an der Spektrometeranlage am Teilchenbeschleuniger Mainzer Mikrotron (MAMI) präsentiert eine neue Methode zur Untersuchung leichter neutronenreicher Kerne und stellt bisherige Auffassungen über Vielnukleon-Wechselwirkungen infrage. „Diese Messung konnte nur dank der einzigartigen Kombination aus der exzellenten Qualität des MAMI-Elektronenstrahls und den drei hochauflösenden Spektrometern der A1-Kollaboration durchgeführt werden“, kommentiert Prof. Dr. Josef Pochodzalla aus dem Institut für Kernphysik. Am Experiment beteiligt waren Forschende der Fudan University in Shanghai (China) sowie der Tohoku University Sendai und der University of Tokyo (beide Japan). Die experimentelle Arbeit wurde von dem Doktoranden Tianhao Shao geleitet und in dem renommierten Fachmagazin Physical Review Letters veröffentlicht.
Grenzen der Kernstruktur bei extrem neutronenreichen Systemen
Eine der grundlegendsten Fragen in der Kernphysik ist, wie viele Neutronen maximal in einem Atomkern mit einer gegebenen Anzahl an Protonen gebunden werden können. Für das fundamentale Isotop Wasserstoff, das nur ein einziges Proton enthält, wurden neben seinen bekannten Isotopen Deuteron und Triton auch mehrere sehr neutronenreiche Isotope von ⁴H bis ⁷H beobachtet. Die extrem schweren Wasserstoffisotope ⁶H (bestehend aus einem Proton und 5 Neutronen) und ⁷H (ein weiteres Neutron), die das bislang höchste bekannte Neutronen-zu-Protonen-Verhältnis aufweisen, sind einzigartige Systeme, um diese Frage zu untersuchen. Allerdings gibt es nur wenige experimentelle Daten zu diesen exotischen Kernen, und die Ergebnisse sind umstritten. Insbesondere gibt es eine langjährige Debatte darüber, ob der Grundzustand von ⁶H eine niedrige oder eine hohe Energie aufweist.
Neue Methode zur Erzeugung von Wasserstoff-6 im Experiment der A1-Kollaboration
Gemeinsam mit den chinesischen und japanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelte die A1-Kollaboration eine neue Herangehensweise zur Erzeugung von ⁶H. Ein Elektronenstrahl mit einer Energie von 855 Megaelektronenvolt (MeV) wurde auf ein ⁷Li-Target geschossen, wobei ⁶H in der Reaktion ⁷Li(e, e’pπ⁺)⁶H produziert wurde, in der zunächst ein Proton des Lithium-Kerns durch die Wechselwirkung mit dem Elektron resonant angeregt wird und prompt in ein Neutron und ein geladenes Pion zerfällt. Überträgt dieses Neutron innerhalb des Kerns seine Energie auf ein Proton, so kann es zusammen mit dem Restkern den neutronenreichen Wasserstoff ⁶H bilden, während das Pion und das Proton den Kern verlassen und gemeinsam mit dem gestreuten Elektron zeitgleich mithilfe dreier Magnetspektrometer nachgewiesen werden können. Um eine ausreichende Produktionsrate für diesen seltenen Prozess zu erreichen, wurde eine 45 mm lange und 0,75 mm dicke Lithiumplatte vom Elektronenstrahl entlang der 45 mm langen Seite durchquert. Dies ist äußerst ungewöhnlich, da in Elektronenstreuexperimenten normalerweise sehr dünne Proben entlang der Strahlachse verwendet werden, wobei der Strahl auf eine breite Fläche senkrecht zur Ausbreitungsrichtung trifft. Ermöglicht wurde dieser besondere Aufbau durch die exzellente Strahlqualität von MAMI – insbesondere durch den äußerst fokussierten und stabilen Elektronenstrahl. Eine zusätzliche Herausforderung stellte der Umgang mit Lithium dar, da dieses Material chemisch äußerst reaktiv, mechanisch empfindlich und zudem temperaturempfindlich ist.
Während einer vierwöchigen Messkampagne konnte, wie zuvor abgeschätzt, etwa ein Ereignis pro Tag beobachtet werden. Es war eines der seltenen Experimente am MAMI, bei dem alle drei hochauflösenden Spektrometer in der A1-Experimentierhalle gleichzeitig im Koinzidenzmodus betrieben wurden, so dass drei Teilchen gleichzeitig nachgewiesen werden konnten. Dieser komplexe Aufbau ermöglichte eine bisher unerreichte Präzision bei gleichzeitig sehr niedrigem Untergrund.
Die neue Messung lieferte ein deutliches Signal von ⁶H mit einer Grundzustandsenergie, die nur etwa 2 MeV über der 3H+n+n+n-Schwelle liegt. Diese 2 MeV geben an, wie viel Energie der ⁶H-Zustand mehr besitzt, als ein gegen einen Zerfall in Tritium (3H) und 3 Neutronen stabiler Kern hätte. Die derart geringe Grundzustandsenergie deutet auf eine stärkere Wechselwirkung zwischen den Neutronen in 6H hin als nach den jüngsten theoretischen Berechnungen zu erwarten war – und stellt somit unser Verständnis von Vielnukleon-Wechselwirkungen in stark neutronenreichen Systemen infrage.
Das Experiment wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), im Rahmen des National Key Research and Development Program of China sowie durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Union gefördert. Weitere Unterstützung erfolgte durch die National Natural Science Foundation of China sowie durch die Japan Society for the Promotion of Science (JSPS), Japan.